Zum zweiten Mal in ihrer Geschichte sind zigtausende Palästinenser auf der Flucht – dieses Mal vor der Gewalt in Syrien. Doch im Libanon werden sie als Flüchtlinge nicht anerkannt – Ein Lokalaugenschein
Reiche Touristen aus den Golfstaaten und Europa besuchen normalerweise im Frühling das Bekaa-Tal im Herzen des Libanon. Zu dieser Jahreszeit beginnt in der Hochebene das Gras zu sprießen, und das Libanongebirge ist noch leicht schneebedeckt. Doch die Touristen sind jetzt schon das zweite Jahr in Folge ausgeblieben – über Gästemangel können die Einwohner trotzdem nicht klagen. Mehr als 400.000 Menschen haben sich vor den Kriegswirren im benachbarten Syrien in den Libanon gerettet.
Aliaa ist eine von ihnen. Die Zwölfjährige hält sich an der Schulter ihres Vaters fest, während er über den Krieg und die Flucht aus Syrien erzählt. „Während der Bombardements in Damaskus hat sie sich immer hinter mir versteckt“, berichtete Adnan Qasem Muhammad in dem beengten Wohnzimmer mit schiefem Boden im Wavel-Flüchtlingscamp nahe der Stadt Baalbek im Bekaa-Tal. Die beiden großen braunen Fauteils nehmen fast den gesamten Raum ein. Der 55-jährige bärtige Mann wirkt müde und erschöpft, als er von der Zerstörung seines Hauses in Damaskus und der Flucht erzählt: „Das Einzige, womit wir flüchten konnten, waren die Kleider, die wir am Körper trugen.“
40.000 Palästinenser geflüchtet
Trotzdem gelten Aliaa und ihr Vater hier nicht als Flüchtlinge. Denn sie sind Palästinenser. Gemeinsam mit zwölf weiteren Familienmitgliedern ist das Mädchen mit ihrem Vater vor Monaten aus dem Damaszener Stadtteil Yarmuk in den Libanon geflüchtet, wo sie gemeinsam mit ihren Gastgebern, drei nahen Verwandten, leben. Insgesamt schlafen, essen und wohnen jetzt 17 Menschen in der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung.
Es ist ein wenig bekannter Aspekt der Flüchtlingskrise, über den im Libanon ungern gesprochen wird: Mehr als 40.000 Palästinenser sind bisher aus Syrien in den Libanon geflüchtet. Anders als Syrer benötigen sie ein Visum, um ins Land zu kommen, und erhalten nur eine begrenzte Aufenthaltsgenehmigung. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) fühlt sich für die Palästinenser nicht verantwortlich und verweist auf das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA). Und dieses hat nicht genug Geld. Die einzigen leistbaren Zufluchtsstätten für die Palästinenser im Libanon sind heillos überfüllte Lager wie das Wavel-Camp. Viele der mehrstöckigen Gebäude in der ehemaligen französischen Kaserne sind desolat. In den kalten Nächten trifft das viele doppelt. da hier viele nicht das Geld für Heizmaterial haben. Die Nachfrage nach Wohnraum ist trotzdem groß, denn die Camps dürfen nicht weiter wachsen: Der Platz ist beschränkt.
Kämpfe mit Extremisten
Auf einem halben Quadratkilometer leben hier normalerweise rund 3.000 Palästinenser. Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien ist diese Zahl auf mehr als 6.000 gestiegen. In den kleinen Wohnungen drängen sich laut UNRWA im Durchschnitt zwölf Menschen. Während des Tages schicken die Eltern ihre Kinder auf die Straße. Es gibt keine Ecke des Camps, an der nicht Kinder stehen, spielen und versuchen, der Langeweile zu entkommen. Palästinenser sind im Libanon eine heikle Frage: Seit den Kriegen in den Jahren 1948 und 1967 gibt es insgesamt zwölf Camps, und die Erfahrungen des Landes damit sind alles andere als positiv.
Die Armut ist hoch, der Platzmangel evident. Ein Nährboden für Extremisten, vor allem da die Lager weder vom libanesischen Staat noch von der UNRWA, sondern von den Palästinensern selbst verwaltet werden. Vorfälle wie jene im Camp Nahr al-Bared 2007, bei denen sich libanesische Sicherheitskräfte Kämpfe mit palästinensischen Extremisten lieferten, haben sich ins Gedächtnis des Kleinstaats eingebrannt.
Für die Folgen der Spannungen müssen Familien wie jene von Adnan Qasem Muhammad geradestehen. „In Damaskus hat meine ältere Tochter Englische Literatur und Translationswissenschaften studiert – hier darf sie ihr Studium nicht fortsetzen. Meine beiden erwachsenen Söhne dürfen nicht arbeiten. Ich selbst habe Ingenieurswissenschaften studiert und darf ebenfalls nicht arbeiten“, erzählt der Vater. Im Libanon leben sie von den Einkünften ihrer Gastgeber, die im Camp eine kleine Greißlerei, die an die Wohnung anschließt, betreiben.
Kein Job, keine staatliche Krankenversorgung
Palästinenser im Libanon können keine staatliche Krankenversorgung in Anspruch nehmen, der Zugang zu libanesischen Schulen ist ihnen verwehrt, und Arbeit zu finden ist für Palästinenser hier praktisch unmöglich. „Für Palästinenser ist es im Libanon verboten, einen Beruf anzunehmen, der irgendeine Spezialisierung aufweist“, erklärt Ann Dissmorr, UNRWA-Direktorin für den Libanon in Beirut. „Das heißt, man kann trotz abgeschlossenen Studiums kein Arzt, kein Ingenieur oder Schneider werden“, sagt die Diplomatin.
Die vielen Palästinenser kämpfen am Arbeitsmarkt mit syrischen Flüchtlingen und Libanesen um Jobs als Feldarbeiter oder am Bau. Wenige Glückliche ergattern einen Job in den von der UNO betriebenen Krankenhäusern oder Schulen. Andere legale Einnahmequellen außerhalb der Camps gibt es nicht. Ihrer Zeit in Damaskus trauern viele hier nach: „Wir waren glücklich in Syrien. Wir durften arbeiten, unsere Kinder konnten studieren. Hier im Libanon fehlt uns die Grundlage zum Leben“, sagt der Familienvater.
Keine Besserung in Sicht
Unter dem Regime von Bashar al-Assad genossen die Palästinenser Freiheiten, von denen sie im Libanon nur träumen können. Das rechnen ihm hier viele hoch an. Verantwortlich für die Gewalt in Syrien werden „Kräfte von außerhalb“ gemacht. Was oder wer damit gemeint ist, will Adnan Qasem Muhammad nicht sagen. Öffentlich beziehen palästinensische Gruppen im Libanon nicht Stellung zum Konflikt. Zu groß ist die Angst, sich selbst und das ohnehin fragile konfessionelle Gerüst des Libanon zu gefährden.
Eine Besserung ist nicht in Sicht. Alles, was sie wollen, betont der Familienvater, sei, wieder in eine sichere Heimat zurückzukehren. Doch was bedeutet Heimat für die Familie, deren Großmutter stolz davon berichtet, dass sie in Lubia im heutigen Israel geboren wurde. „Vorerst Damaskus, dann Palästina“, sagt der Vater mit einem bitteren Lächeln im Gesicht – wissend, dass Letzteres ein Traum bleiben dürfte.