Foto: „Brexit Protest“ von ChiralJon; Lizenz: (CC BY 2.0)
Großbritannien bricht nicht nur aus der EU aus, auch das Vereinigte Königreich selbst droht am Brexit zu zerbrechen. Wo ist der vielgerühmte Common Sense der Briten geblieben? Eine Spurensuche
Großbritannien, Heimat des Pragmatismus. So sahen sich nicht zuletzt die Briten gern selber – vor allem im Vergleich mit ihren Nachbarn auf dem Kontinent, die als unvernünftig und emotional verachtet wurden. Mögen andere Staaten regelmäßig Revolutionen, Umstürze und Systembrüche probiert haben, die Briten blieben – abgesehen von einem kurzen Ausrutscher unter Karl I. – ihrem System treu. Revolutionen, das überließ man anderen. „Im Ausland ist es blutig“, sagte schon Georg VI., Vater von Königin Elisabeth II., mit Blick auf den europäischen Kontinent. Pragmatismus statt Ideologie. Maßhalten statt Extremismus. Kontinuität statt Veränderungen.
Seit dem Referendum über den Verbleib oder Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union steht das Image des Landes jedoch kopf. In den zweieinhalb Jahren, die seit dem Referendum 2016 vergangen sind, wirkte Großbritannien – und vor allem die britische Politik – zunehmend „emotional, irrational und ziemlich chaotisch“, wie Bill Emmott, langjähriger Chefredakteur des „Economist“, in einem Blogeintrag erklärt. „Nur weil die Frist für unseren Austritt Ende März immer näher rückt, wird unser Verhalten nicht unbedingt besser.“
Vom Parlieren zum Parlament
Der Mythos des britischen Pragmatismus ist in seiner Geschichte begründet. Nur wenige Länder blicken auf eine derart lange Kontinuität ihres politischen Systems zurück. Aus dem Witenagemot, der angelsächsischen Ratsversammlung im 7. Jahrhundert, entwickelte sich unter normannischer Herrschaft der große Rat, in dem parliert wurde.
Das seit dem 13. Jahrhundert so genannte englische Parlament verwandelte sich nach dem Zusammenschluss Englands mit Schottland 1707 schließlich zum heutigen Parlament in Westminster.
Das Fehlen einer verschriftlichten Verfassung und der ständige Interessenausgleich zwischen den vier Nationen England, Schottland, Wales und später Nordirland machte das, was als britischer Pragmatismus bezeichnet wird, zur politischen Notwendigkeit.
Auflösungserscheinungen
Zuletzt blieb davon aber nur eine Worthülse übrig. Traditionelle Strukturen zeigen Auflösungserscheinungen, das ist auch in der Volksvertretung in Westminster zu beobachten. Die ideologischen Risse verlaufen nicht mehr nur zwischen, sondern auch innerhalb der Parteien. Erst unlängst haben Sozialdemokraten ihrer Labour-Partei den Rücken gekehrt. Auch Abgeordnete der Konservativen wandten sich von Premierministerin Theresa May ab und traten aus der Partei aus. Die hat derweil mit einer erzkonservativen Gruppe an Parlamentariern, die sich immer mehr zur Partei in der Partei entwickelt, zu kämpfen. Mit der Schottischen Nationalpartei sitzt gar ein politisches Lager im Unterhaus in Westminster, das gar nicht mehr Mitglied des Hauses, geschweige denn der 300-jährigen Union aus Schottland und England sein will.
Ein Brexit ohne Austrittsvertrag, einer mit Austrittsvertrag, Verbleib in der Zollunion, eine Mitgliedschaft in der EFTA, ein neues Referendum oder gleich die Unabhängigkeit Schottlands vom Vereinigten Königreich samt Eintritt in die EU – inzwischen ist jede Meinung, jede Stimmung und jede Ideologie im Parlament lautstark vertreten, eine konsensfähige Mehrheit rückt damit aber in immer weitere Ferne. Die schon immer recht robust geführten Parlamentsdebatten verkommen zur Bühne für ein Psychodrama: Das Vereinigte Königreich sucht seine Identität.
Radikale Schwenks
Die Krise schlummert schon seit geraumer Zeit unter der Oberfläche. „Common sense Britain“ war mehr Trugbild denn Realität. So sachlich und pragmatisch, wie sie sich selbst gern gesehen haben, waren die Briten nie. Kaum eine westliche Demokratie hat in den vergangenen 100 Jahren so viele und so radikale ökonomische sowie politische, von Ideologie getriebene Schwenks vollzogen wie das Vereinigte Königreich.
Galt das Land Anfang des 20. Jahrhundert noch als „Werkstatt der Welt“, ein von Freihandel, Wirtschaft und Industrie dominiertes Weltreich mit einem vergleichsweise überschaubaren Regierungsapparat, blieb davon nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch die Sehnsucht nach einem Weltreich übrig.
Clement Attlees Labour-Regierung riss nach seinem überraschenden Wahlsieg 1945 das Ruder herum. Bahn-, Energie-, Kohle- und Stahlindustrie wurden verstaatlicht. Während sich mehr und mehr Kolonien von den Briten lossagten, wurde der moderne Wohlfahrtsstaat ausgebaut. Der staatliche Gesundheitsdienst NHS sowie zigtausende Sozialwohnungen, die weite Landstriche bis heute prägen, zeugen davon. Das alles musste auch verwaltet werden, der Regierungsapparat in Whitehall wurde immer größer und immer zentralistischer.
Unter Premierministerin Margaret Thatcher schlug das Pendel in den 1980ern heftig zurück. Große Teile der Wirtschaft wurde privatisiert, weite Teile des Landes deindustrialisiert. An den Konsequenzen der Marginalisierung einst stolzer Arbeiterstädte nagen viele Landesteile bis heute. – Auftritt Tony Blair, der in den 1990ern Großbritannien wieder einen neuen ideologischen Anstrich gab: liberal, kreativ, kosmopolitisch, nach Europa gerichtet.
Neue Erzählung, alte Identität
Jede dieser oft radikalen Wendungen gab dem Land eine neue Erzählung. Die Bevölkerung blieb jedoch die gleiche. Die alten Identitäten verschwanden nie und wirken auch Jahrzehnte später noch nach. Im Falkland-Krieg 1982 konnte sich der Inselstaat, der fast seine gesamte Flotte gegen die argentinischen Besatzer im Südatlantik schickte, wieder als große Seemacht fühlen.
Glorreiche Rückkehr: Die erfolgreich britische Flotte kehrt nach dem Falkland-Krieg in den 1980ern zurück.
Auch wenn die britische Marine schon damals im Abstieg begriffen war.
Im farbenfrohen, weltoffenen Großbritannien des Tony Blair, in das in den 1990er-Jahren begeistert Arbeitskräfte aus ganz Europa strömten, fühlten sich viele Briten zunehmend fremd. Oft genau in jenen Gebieten, die mehr als 30 Jahre zuvor durch die „Thatcher Revolution“ deindustrialisiert und damit vielfach ihrer Nachkriegsidentität beraubt wurden. Die Antwort kam in Form des Brexits.
Widersprüche
Hinter dem EU-Austritt, dem Bruch mit Europa, steht aber nur die Hälfte des Landes. Die Debatte über den Brexit hat nicht nur den britischen Pragmatismus als Mythos entlarvt, sie legte die tiefen Risse und Widersprüche in der britischen Gesellschaft offen, die von den ständigen ideologischen Neuerfindungen nur oberflächlich übertüncht, in manchen Fällen sogar verstärkt wurden.
Die City of London – mit ihren Bank- und Versicherungshäusern einer der kapitalistischsten Orte der Welt – sitzt inmitten eines Landes mit einem sozialistischen, komplett verstaatlichten Gesundheitssystem. Mit Oxbridge betreibt das Land ein System der elitärsten Top-Universitäten der Welt, hat aber gleichzeitig europaweit eines der schlechtesten Berufsausbildungssysteme.
Und mit dem Brexit hat sich eine Nation, die nicht müde wird zu betonen, mit der Welt Handel treiben zu wollen, aus einem der größten Handelsblöcke der Welt verabschiedet.