Der 30. Jänner 1972 endete in einem Blutbad. Fast ein halbes Jahrhundert später wird ein einziger britischer Soldat wegen Mordes angeklagt. Die alten Wunden in Nordirland werden dadurch nicht verheilen.
„Das ist eine der wichtigsten Wochen meines Lebens“ – als Paul Doherty vor der Guildhall von Derry/Londonderry spricht, schwingt viel Pathos mit; aber auch die Last der Geschichte, die mit dieser Stadt verbunden ist. In dieser Woche ging es in der nordirischen Stadt nicht um den Brexit, sonst Thema Nummer eins auf den Britischen Inseln, sondern um das, was Doherty als „Gerechtigkeit“ bezeichnet. Die soll nun zumindest einem früheren britischen Soldaten widerfahren, der am sogenannten „Bloody Sunday“ beteiligt war. Die nordirische Staatsanwaltschaft will ihn wegen zweifachen Mordes anklagen.
Die Ereignisse mögen zwar vor 47 Jahren stattgefunden haben, aber die Schatten des 30. Jänner 1972 hängen bis heute über der 85.000-Einwohner-Stadt. Damals gingen tausende Männer, Frauen und Kinder auf die Straßen der Stadt, um gegen ein neues Gesetz zu demonstrieren, das den britischen Behörden gestattete, Menschen ohne Gerichtsverhandlung festzuhalten. Der Tag endete in einem Blutbad, britische Fallschirmjäger erschossen 13 katholische Demonstranten. Ein weiterer erlag Monate später seinen Verletzungen. Die Ereignisse wirkten wie ein Brandbeschleuniger für den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten.
Bisher keine strafrechtlichen Konsequenzen
„Meinem Vater wurde von Soldat F genau hier in den Rücken geschossen“, sagt Paul Doherty vor dem Gedenkstein, der für die Verstorbenen errichtet wurde. Patrick Doherty wurde im Alter von 31 Jahren von hinten erschossen. Sohn Paul zeigt auf den Vorplatz des Wohnblocks, auf den der Vater sich kriechend in Sicherheit zu bringen versuchte, bevor er starb.
Bei jedem Wort schwingt Emotion mit. „Ich bin mir sicher, dass Soldat F nicht aus Angst oder Panik geschossen hat.“ Es war, so ist Paul Doherty überzeugt, kaltblütiger Mord. Genau dieser Soldat F soll nun angeklagt werden. Bisher hatte der Fall hatte für die verantwortlichen Sicherheitskräfte keine strafrechtlichen Konsequenzen.
Zufrieden ist Doherty damit jedoch nicht – genauso wenig wie viele andere Angehörige der Opfer dieses Tages, die nach Bekanntgabe der Anklage am Donnerstag dafür auf die Straße gingen. Denn gegen 18 weitere Verdächtige gibt es laut Staatsanwaltschaft nicht genügend Beweismaterial, um eine Strafverfolgung zu rechtfertigen.
Über allem in Nordirland schwebe die Frage, wie man mit der Vergangenheit umgehe, sagt Katy Hayward, Soziologin an der Queen’s University in Belfast. Diese Vergangenheit ist in Derry/Londonderry auf Schritt und Tritt präsent. Viele Hauswände im katholischen Teil der Stadt sind mit Bildern, die das Blutvergießen in Erinnerung halten sollen, verziert.
Bisher hatte der „Bloody Sunday“ für die verantwortlichen Sicherheitskräfte keine strafrechtlichen Konsequenzen. Eine erste von der britischen Regierung eingesetzte Kommission kam vor Jahrzehnten zu dem Schluss, dass die Elitesoldaten in Notwehr gehandelt hätten. Diese Schlussfolgerungen stellten sich in einer zweiten Untersuchung 2010 als Farce heraus.
Kampf ums Narrativ
Der jahrzehntelange Kampf um Gerechtigkeit für die Opfer des „Bloody Sunday“ erklärt, warum der Nordirland-Konflikt alles andere als vorbei ist. „Es gibt keinen Versuch, ein gemeinsames Narrativ zu entwickeln“, sagt Hayward. Auch 20 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen „geht es noch immer darum, welches Narrativ gewinnt“ – jenes der Republikaner oder jenes der Unionisten. Die Opfer des Bürgerkriegs auf beiden Seiten blieben dabei auf der Strecke.
Und Opfer gab es mehr als genug: Mehr als 3.000 Menschen starben in den „Troubles“, wie der Nordirland-Konflikt hier genannt wird.
Die Frage, welches Narrativ gewinnt, hat angesichts des bevorstehenden EU-Austritts des Vereinigten Königreichs an Brisanz gewonnen hat. „Auf der einen Seite hat das Karfreitagsabkommen wirtschaftlichen Aufschwung und einen Prozess der Normalisierung in Sicherheitsfragen gebracht“, sagt die Soziologin, „aber gleichzeitig hat es die Grenzfrage zu der entscheidenden Frage gemacht.“ Der 1998 zwischen Großbritannien, Irland und den wichtigen Playern Nordirlands ausgehandelte Vertrag spann ein delikates Netz an Kompromissen zwischen den Protestanten, die bei Großbritannien bleiben wollen, und den Katholiken, von denen sich viele mit der Republik Irland verbunden fühlen.
Interkonfessionelle Gewalt halbiert
In diesem Netz der Kompromisse findet sich auch ein Tauschgeschäft: Irland gab seinen Anspruch auf den Norden auf, im Gegenzug stimmte Großbritannien einem Mechanismus zu, durch den Nordirland sich in einem Referendum von der Union aus England, Schottland und Wales abspalten kann. Die Grenze zwischen beiden Inselteilen wurde de facto unsichtbar. Ein EU-Austritt Großbritanniens ohne Einigung über diese Grenzfrage könnte all das jedoch zunichtemachen.
„Es gibt keine Lust darauf, zu den Tagen des Konflikts zurückzukehren“, sagt Paul Doherty, „aber die Leute werden eine harte Grenze nicht akzeptieren. Wird es dann zu Anschlägen kommen? Womöglich wird es die geben.“
Dass der alte Konflikt mit derselben Intensität gewaltsam ausbrechen könnte, erscheint auf den ersten Blick unvorstellbar. Denn die Sicherheitslage im Land wurde durch den Friedensschluss transformiert: Im Jahr 1972, dem blutigsten im Nordirland-Konflikt, starben 498 Menschen durch interkonfessionelle Gewalt. Heute liegt die Mordrate im niedrigen zweistelligen Bereich. Verglichen mit dem Rest des Vereinigten Königreichs gibt es keine Ausreißer, die allgemeine Kriminalitätsrate ist sogar geringer. Die interkonfessionelle Gewalt hat sich in den vergangenen 15 Jahren fast halbiert.
Brexit als Geschenk des Himmels
„Die Paramilitärs sind jedoch nie wirklich verschwunden“, warnt Katy Hayward. Der britische Inlandsgeheimdienst MI5 verwendet noch immer einen beträchtlichen Teil seiner Ressourcen für Nordirland. Paramilitärische Organisationen – auf beiden Seiten des Konflikts – sind mittlerweile im Bereich der organisierten Kriminalität aktiv. Der Schutz ihrer konfessionellen Gruppe und der Kampf für die „gerechte Sache“ werden nur vorgeschoben, um Gewalttätigkeiten innerhalb des Zuhälter- und Drogenmilieus zu legitimieren.
„Je polarisierter die Gesellschaft ist, desto mehr können diese Gruppen davon profitieren“, sagt Hayward. Der Brexit sei in dieser Hinsicht ein Geschenk des Himmels.