Großbritannien ist das Geburtsland der Eisenbahn, doch fast 200 Jahre nach der Erfindung des Personenverkehrs auf Schienen liegen die Nerven im Land blank: Verspätungen, Ausfälle und teure Tickets sind an der Tagesordnung. Warum?
HS2 soll es richten: Die Regierung will Milliarden in die Hand nehmen, um das riesige Bahnprojekt zu bauen. Die High Speed-Strecke von London über Birmingham nach Manchester und Leeds soll Bahnfahren in Großbritannien endlich erträglich machen. Denn Reisen mit dem Zug ist in dem Land, das Züge erfunden hat, schon lange keine entspannte Angelegenheit mehr. Pendeln mit der Bahn kann im Vereinigten Königreich Albtraum werden: Verspätete Züge, überfüllte Wagons, regelmäßige technische Gebrechen. Dafür muss man auch noch tief in die Tasche greifen. Jahrestickets für eine durchschnittliche Pendlerstrecke können leicht mehrere tausend Pfund pro Jahr verschlingen. Zum Vergleich: ein Jahrespendlerticket für eine vergleichbare Strecke im Großraum Wien kostet 365 Euro – mit einem Jahresticket der Wiener Linien nur knapp doppelt so viel. Davon kann man auf der Insel nur träumen.
Wie ist es dazu gekommen? Im 19. Jahrhundert war Großbritannien der Pionier im Bahnverkehr. George Stephensons gilt als der Vater des Personenbahnverkehrs. Der Ingenieur und Erfinder nutzte das bisher für den Kohlebergbau verwendete Transportmittel um 1825 die erste öffentlich Bahnstrecke für Personenverkehr im Norden Englands zu eröffnen. Es war der Beginn einer Revolution. In den folgenden Jahrzehnten wurden im ganzen Königreich zigtausende Kilometer an Gleisen verlegt. Bis 1920 gab es 120 private Bahnunternehmen. 1921 intervenierte die Regierung und schloss das Sammelsurium an Firmen zu vier regionalen Unternehmen zusammen.
Privatisierung peu à peu
Bereits während der Kriegsanstrengungen des zweiten Weltkriegs begannen die vier Unternehmen enger zusammenzuarbeiten. Nach dem Krieg gewann die Labour-Partei überraschend die Wahlen und übernahm die Macht im Land. Neben der Einführung der Sozialhilfe und eines modernes staatliches Gesundheitssystem wurden auch Schlüsselindustrien verstaatlichen – darunter auch die Bahn: Aus den vier privaten Unternehmen wurde 1948 die “British Railways”. Profite wurden für die Bahn unwichtiger und falls sie doch gemacht wurden, wurden sie ins Bahnsystem reinvestiert.
In den folgenden Jahrzehnten wurden aber immer mehr Teile des staatlichen Unternehmens Schritt für Schritt privatisiert – von Catering über Gebäude. 1994 wurden schließlich die Züge selbst privatisiert. Dafür wurde zunächst das Land in unterschiedliche Bahn-Regionen aufgeteilt. Private Firmen können dann Angebote legen, um eine Konzession für eine dieser Regionen zu erhalten. Die Idee dahinter war, dass die erforderlichen Dienstleistungen ausgeschrieben werden und ein Bieterwettbewerb um die Konzessionen für die einzelnen Regionen ausbricht und das beste Unternehmen die Lizenz erhält.
Monopole statt Wettbewerb
Die Realität sieht jedoch meist anders aus, wie am Beispiel Southern Rail zu sehen ist. 2018 war das Unternehmen der schlechteste Bahndienstleister im Vereinigten Königreich: Acht Prozent der Zugfahrten wurden entweder komplett gestrichen oder waren mehr als eine halbe Stunde verspätet. Als sich Southern Rail vor sechs Jahren um die Konzession bewarb, boten noch vier weitere Unternehmen mit. Aber keiner der anderen Bewerber konnte oder wollte die geforderte Dienstleistung anbieten. Übrig blieb Southern Rail – die Resultate sind bekannt.
Die Idee der Privatisierung war, durch den Bieterwettbewerb die Qualität zu steigern und die Kosten zu senken. Doch das Gegenteil ist oft der Fall. Denn sobald ein Bahnunternehmen eine Konzession für eine Region erhält, hat es de facto ein Monopol in der Region.
Die Bahnunternehmen und ihre Investoren verdienen gut daran. Auch das ein Vorwurf der Kritiker der Privatisierungsgegner: Der Gewinn wird als Dividende an Aktionäre ausbezahlt anstatt in die Dienstleistung zu investieren.
It’s the infrastructure, stupid!
Bei der immer lauter werdenden Kritik an der britischen Bahnprivatisierung geht aber ein wichtiges Detail oft verloren: 60 Prozent der Verspätungen im britischen Bahnverkehr liegen jedoch in der Verantwortung von Network Rail. Das staatliche Infrastrukturunternehmen ist für Schienen, Signale und Bahnhöfe verantwortlich. Die privaten Bahnunternehmer besitzen nur die Züge. Eine Verstaatlichung der Bahnunternehmen würde also die Probleme bei Network Rail nicht lösen.
Die oft veraltete Infrastruktur benötigt vor allem eines: Mehr Geld. Die britische Bahninfrastruktur ist alt und über Jahrzehnte hinweg wurde zu wenig investiert. Das Resultat sind Ausfälle, ständige Reparaturen, Störungen, und viel Aufholbedarf. Nur rund ein Drittel des britischen Bahnnetzes ist zum Beispiel elektrifizirrt. Damit gehört Großbritannien zu den Schlusslichtern in Europa. Zum Vergleich: In Österreich sind es mehr als 71 Prozent. All das, obwohl der britische Bahnverkehr bereits jetzt im Schnitt mit einer Milliarde Pfund pro Jahr subventioniert wird.