Brexit-Frust an Nordirlands unsichtbarer Grenze

Nordirland Grenze
Foto: „The Southern, sunny, side of the Killeen Bridge Anti-Brexit Poster“/https://www.geograph.org.uk/photo/6053264 von Eric Jones; Lizenz: (CC BY-SA 2.0)

Mit dem Karfreitagsabkommen verschwand die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Mit dem Brexit könnte sie wiederkommen – mit tiefgreifenden Konsequenzen für Firmen und Einwohner. Ein Lokalaugenschein.

Unentwegt wird gehämmert und geschweißt. Noch bevor man sich fragen kann, wozu riesige Ketten von der Decke hängen, biegt ein Gabelstapler um die Ecke, um große Metallbögen abzustellen. Auf den Außenstehenden wirkt alles ein wenig chaotisch, aber der Eindruck täuscht. Bei der Firma Fleming wird hergestellt, was das Bauernherz begehrt: Traktoranhänger, Saatmaschinen und Güllefässer. Die Werkshalle der Firma in Newbuildings, einem verschlafenen Ort im äußersten Nordwesten Nordirlands, könnte überall in Europa stehen.

Doch sie steht nur rund zwei Kilometer von einer Grenze entfernt, über die ganz Europa diskutiert. Es ist eine Grenze, die nur auf Straßenkarten und in Köpfen existiert – sichtbar ist sie nicht. Kein Schild, kein Grenzbalken erinnert zwischen den grünen Hügeln und unzählbar vielen Schafen daran, dass Irland aus zwei Staaten besteht – der Republik Irland im Süden und Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs im Norden. Nur die Farben der Straßenmarkierungen verraten, in welchem Staat man sich gerade befindet.

Werkshalle in Nordirland
In der Firma von George Fleming wird fleißig gehämmert und geschweißt – trotz Brexits. Foto: jnnetwork/pool

Die Vereinbarung über eine unsichtbare Grenze ist Teil des Karfreitagsabkommens von 1998, das den 30-jährigen Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland beendete. George Fleming, Vorstandsvorsitzender des Unternehmens, das seit mehr als 150 Jahren den Namen seiner Familie trägt, führt durch die Werkshallen. Das Geschäft boomt, doch die Sache mit der Grenze bereitet auch Fleming Kopfzerbrechen.

Brexit steht vor der Tür

Der Friedensschluss hat Nordirland einen wirtschaftlichen Aufschwung beschert. Als George Fleming die Firma 1988 allein übernahm, hatte er 15 Mitarbeiter. „Wegen der offenen Grenze und der Freizügigkeit von Menschen und Gütern ist unsere Firma auf 115 Mitarbeiter angewachsen“, erzählt er sichtlich stolz.

Doch auch im 3.000-Einwohner-Ort Newbuildings steht der Brexit vor der Tür. Die Europäische Union besteht bei den Austrittsverhandlungen mit Großbritannien auf dem sogenannten Backstop – einer Garantie, dass es zwischen der Republik Irland und Nordirland zu keiner harten Grenze kommt. Notfalls muss Nordirland demnach in einer Zollunion mit Irland bleiben. Genau daran stoßen sich britische Erzkonservative und die nordirische DUP, die das Austrittsabkommen ablehnen. Schon drei Mal ist Theresa Mays Austrittsdeal im Parlament in Westminster durchgefallen.

Exporte in die EU

Ein ungeregelter Austritt und eine harte Grenze drohen. Das wiederum könnte Unternehmen wie jenem von George Fleming einen Strich durch die Geschäftsbilanz machen. Denn ohne Stahl keine landwirtschaftlichen Maschinen. Dieser muss allerdings importiert werden – aus Indien, China, Italien, Frankreich oder Spanien. „Ein bis zwei Container Stahl erreichen täglich die Fabrik“, sagt Fleming. Die daraus hergestellten Maschinen verlassen ein- bis zweimal pro Woche wieder das Werksgelände – „sechs bis acht Container“. 30 Prozent werden in die Republik Irland, 50 Prozent nach Großbritannien, der Rest nach Frankreich, Dänemark, Neuseeland und Australien geliefert.

„Jetzt haben wir keine echten Probleme, Material zu bekommen oder zu verschicken, weil die meisten Firmen, von denen wir Material beziehen, in der EU sind“, sagt Fleming. Und mit China und Indien hat die EU Handelsverträge, die den Handel einfacher machen würden.

George Fleming vor der Werkshalle
George Fleming fürchtet einen harte Grenze. Foto: jnnetwork/pool

Eine harte Grenze mit Zollkontrollen an der EU-Außengrenze nur wenige hundert Meter vor der eigenen Haustür können sich viele hier gar nicht vorstellen. George Fleming schon: „Unglücklicherweise bin ich alt genug, um mich an eine harte Grenze zu erinnern. Immer wenn wir Container in die Republik Irland geschickt haben, mussten wir Zollpapiere ausfüllen, am nordirischen Zollposten anhalten, unsere Papiere prüfen lassen, um dann 50 Meter weiter zu fahren, um am irischen Checkpoint unsere Papiere prüfen zu lassen. Es gab immer Schlangen, es dauerte ein bis zwei Stunden, bis wir durch den Zoll kamen und weiterfahren konnten.“

Gute Integration

Zollkontrollen an der Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem Nicht-mehr-EU-Mitglied Nordirland sind jedoch nur die offensichtlichen Probleme, die ein Brexit mit sich bringt. Die Irische Insel ist in wirtschaftlichen Belangen inzwischen nämlich bemerkenswert integriert: Firmenchef Fleming selbst überquert mehrmals pro Woche die Grenze zwischen den beiden Staaten, 25 Prozent seiner Mitarbeiter kommen aus der Republik Irland. Und diese Mitarbeiter sind dringend notwendig: „Es ist extrem schwierig, Menschen dazu zu bewegen, in diesen Teil der Welt zu ziehen. Wir sind eine so integrierte Gesellschaft, dass wir einfach keine harte Grenze haben können.“

Die Integration war ein entscheidender Teil des Karfreitagsabkommen – der Abbau der Grenzposten dabei nur das sichtbare Zeichen. Nordiren erhielten das Recht auf die britische und die irische Staatsbürgerschaft – oder beides. Nationale und religiöse Identitäten auf der Insel verschwimmen zunehmend – gerade unter der jungen Bevölkerung. „Ich glaube, die junge Generation ist in der glücklichen Lage, den Konflikt nicht mehr miterlebt zu haben. Die meisten jungen Menschen wollen eine gute Ausbildung bekommen und in ihrem Leben weiterkommen – egal ob Norden oder Süden“, sagt Jonathan Lecky, Generaldirektor von Fleming. Er ist selbst Ire, lebt mit seiner Familie in der Republik und pendelt wie selbstverständlich jeden Tag nach Nordirland zur Arbeit.

Brexit polarisiert

„Wohlstand sichert Frieden“, lautete die Devise der Verhandler – die Rechnung ging auf. Die interkonfessionelle Gewalt hat sich in den vergangenen 15 Jahren fast halbiert. Heute ist die Mordrate im niedrigen zweistelligen Bereich, verglichen mit dem Rest des Vereinigten Königreichs gibt es in der Statistik keine Ausreißer.

George Fleming und Johnathan Lecky
George Fleming mit seinem Generaldirektor Jonathan Lecky. Foto: jnnetwork/pool

Verschwunden ist der Konflikt dadurch freilich noch nicht. „Lange Zeit ging es in der Politik in Nordirland bergauf; die vergangenen drei, vier Jahre wurde es jedoch schlimmer“, warnt Fleming. Man treffe sich nicht mehr in der Mitte, beide Seiten sind unnachgiebiger geworden. Der Brexit hat das Klima weiter polarisiert.

Im weit entfernten London – das glauben hier viele – hat man auf all das völlig vergessen. „Ich glaube, die britischen Politiker haben die Situation in Nordirland nicht wirklich verstanden. Ich glaube, sie haben tatsächlich gedacht, das sei irgendein verschlafenes Nest, wo ein paar Lkws täglich die Grenze überschreiten und das alles keine echte Bedeutung hat“, sagt Fleming. Nun stehen Brüssel und London vor der Frage, wie man bei einem Brexit ohne Übereinkommen Zollkontrollen an einer Grenze mit mehr als 200 offiziellen Grenzübergängen – deutlich mehr als entlang der gesamten EU-Außengrenze in Osteuropa – durchführt.

Empörung bleibt aus

Unter den Mitarbeitern erntet das Chaos in Westminster nur Kopfschütteln – echte Empörung über den Brexit und seine Folgen bleibt meist jedoch aus. „Die Empörung wird man so lange nicht sehen, solange es keine echten Auswirkungen gibt“, sagt George Fleming. Noch spüre man die Konsequenzen des Brexits nicht: „Die Löhne haben sich nicht verändert, der Arbeitsmarkt ist unverändert, die Preise für Fleisch oder Milch sind nicht gestiegen.“ Das könnte sich ändern: „Wenn man das Szenario einer harten Grenze nimmt und wir mit einem Schlag 30 Prozent unseres Geschäfts mit der Republik Irland verlieren, heißt das, dass wir 30 Prozent unserer Belegschaft nicht mehr brauchen. Dann werden wir die Empörung über den Brexit sehen.“

Dann könnte es jedoch zu spät sein. Fleming hat sich deswegen inzwischen auf den Brexit vorbereitet: „Ich besitze bereits Grundstücke in der Republik Irland, einige Industriegebiete.“ Auf diesen kann er gegebenenfalls eine Produktion auf EU-Gebiet anlaufen lassen. Damit auch nach dem Brexit bei Fleming weiterhin fleißig gehämmert und geschweißt werden kann.

Autor: Stefan Binder aus Newbuildings.
Veröffentlicht am 9.9.2019.
Die Reise nach Nordirland, in deren Rahmen die Reportage entstand, erfolgte mit finanzieller Unterstützung von Johanna-Quandt-Stiftung, Tourism Ireland / Tourism Northern Ireland und Scalable Capital.

Weiterführende Links:
Brexit, oder: Das Ende des britischen Pragmatismus
Brexikon – Das große Brexit-Lexikon
Brexit: Die wichtigsten Fragen zum britischen EU-Referendum

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