Seit zwei Jahren hat der Libanon kein Staatsoberhaupt mehr, tausende syrische Flüchtlinge strömen ins Land. Lokalaugenschein in Bar Elias
Einhunderfünfzig Dollar kostet es, um ins Kriegsgebiet zu kommen. Der Taxifahrer in der Innenstadt der libanesischen Hauptstadt Beirut grinst, von Ausländern verlangt er das Doppelte. Damaskus ist mit dem Auto nur knapp drei Stunden entfernt. So weit muss man aber nicht fahren, um einige der Folgen des Bürgerkrieges in Syrien zu sehen.
Im Libanon bekommt man sie erste Reihe fußfrei präsentiert: Der Place de L’Étoile, früher ein beliebter Treffpunkt in der wiederaufgebauten Innenstadt Beiruts, ist menschenleer, die früher gut besuchten Cafés und Restaurants in der Umgebung sind verwaist. Der Grund ist einer der Anrainer: das libanesische Parlament. Das Gebiet ist großräumig durch Militär und Polizei verbarrikadiert – ohne Genehmigung kommt keiner mehr in das Viertel. Viele Einwohner des Libanon fragen sich warum. Denn Arbeitseifer kann man den Parlamentariern derzeit nicht vorwerfen. Das Land verharrt trotz Krisen und Kriegen in der Region im politischen Stillstand.
Video: Sperrzone Innenstadt – Das Viertel rund um den Place de l’Étoile darf nur noch mit Genehmigung betreten werden.
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Zu verdanken hat der Libanon dies dem eigenen Bürgerkrieg, der von 1975 bis 1990 im Land tobte. Teil der Friedenslösung war es, ein System aus religiösem Proporz und Konsens aufzubauen. Das führte aber letztlich dazu, dass sich die politischen Akteure heute gegenseitig blockieren, weswegen das Land seit zwei Jahren unter anderem keinen Staatspräsidenten mehr hat. Die Amtszeit von Michel Suleiman als Staatspräsident endete im Mai 2014. Seither sind dutzende Versuche, einen Nachfolger zu ernennen, an der nötigen Zweidrittelmehrheit oder am Boykott von Parlamentariern gescheitert.
Trotzdem scheint dies derzeit nicht das größte Problem des Landes zu sein. Durch den Krieg in Syrien ist die Bevölkerungszahl des Vier-Millionen-Einwohner-Staates explodiert. Mehr als 1,5 Millionen Flüchtlinge werden mittlerweile im Land vermutet. Offiziell wurde die Grenze zu Syrien für Flüchtlinge nach rund einer Million angekommener Schutzsuchender geschlossen – gekommen sind sie trotzdem weiterhin. Jetzt leben sie illegal im Land – wie viele genau, weiß niemand.
Nichts geht mehr
Dazu sind die wichtigen Handelsrouten nach Syrien zusammengebrochen. „Unsere Exporte sind gefallen wie ein Stein“, sagt Yassine Jaber, ehemaliger Wirtschaftsminister und Abgeordneter der schiitischen Amal im libanesischen Parlament. Wäre die Situation durch den syrischen Bürgerkrieg nicht schon schlimm genug, so hat der Ölpreisverfall jetzt noch dazu geführt, dass weniger Touristen und Investitionen aus den für den Libanon so wichtigen Golfstaaten kamen. „Wir waren mal wirklich gut im Immobiliensektor“, sagt Jaber. Aber auch der sei mittlerweile zusammengebrochen. Schuld an der ganzen Misere seien die anderen, die Kriege in Syrien, im Irak, die Jihadisten und jene, die sie unterstützen. Gemeint sind bei letzterem vor allem die Golfstaaten und Saudi-Arabien.
Für Nabil de Freige, Minister für administrative Angelegenheiten und Mitglied in der sunnitisch dominierten und von Saudi-Arabien unterstützten Partei von Saad Hariri, sitzen die Übeltäter auch im Ausland. Er meint damit aber eigentlich die schiitische Partei von Jaber, die genauso wie die Hisbollah vom Iran tatkräftig unterstützt wird. Dass es im Libanon noch immer keinen Präsidenten gebe, „wirft kein gutes Licht auf Teheran“, meint er beim Mittagessen mit dem STANDARD. De Freige und Jaber stehen symbolhaft für den Zustand der Politik des Landes. Man belauert sich argwöhnisch. Das Nebenprodukt: Nichts geht mehr in der libanesischen Politik.
Keiner bewegt sich
Und trotzdem besteht der Libanon in einer gewisser Stabilität weiter. Es scheint so, als ob sich das Land beharrlich weigert zu kollabieren. Genau wie auch der Nachbar Syrien ist das Land ein Sammelbecken für verschiedene Religionen und Sekten. Viele Sunniten sind auch im Libanon strikte Gegner von Bashar al-Assad und seinen Verbündeten, die schiitische Hisbollah unterstützt den syrischen Machthaber mit Waffen und Kämpfern. Trotzdem blieb es im Libanon großteils ruhig, nachdem die Schiitenmiliz Hisbollah aktiv auf der Seite der Assad-Truppen in Syrien eingriff. Das Motto scheint zu sein: Keiner bewegt sich.
In Bar Elias stinkt diese Untätigkeit sprichwörtlich zum Himmel. Der Ort ist rund sieben Kilometer von der syrischen Grenze entfernt und neben dem Ort Arsal die zweite große Anlaufstelle für syrische Flüchtlinge im Libanon geworden. Arsal versinkt mittlerweile in Kämpfen zwischen rivalisierenden Gruppen aus dem syrischen Bürgerkrieg.
In Bar Elias hat der Ansturm hingegen zu ganz praktischen Problemen geführt: Der Müll hat sich verdoppelt, weswegen Mowas ar-Raji, der Bürgermeister des Ortes, vor einem gigantischen Müllhaufen steht, als er Journalisten aus dem Ausland empfängt.
40.000 Einwohner hatte der Ort vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien. Mittlerweile sollen rund 100.000 Menschen in dem Ort leben – genau weiß das auch hier keiner.
Teufelskreislauf
„Es gibt ein Sicherheitsproblem, ein Abfallproblem, ein Wasserproblem, ein Abwasserproblem und ein Arbeitsplatzproblem“ zählt Ar-Raji die Missstände seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Nachbarland Syrien auf.
Die Stimmung bei dem Treffen, für das auch zahlreiche Dorfältere zum Müllhaufen von Bar Elias gepilgert sind, ist aufgeheizt. „Die Flüchtlinge sind unsere Gäste, aber ab einem gewissen Zeitpunkt müssen uns die Gäste auch verlassen. Dazu ist es noch nicht gekommen, aber wir stehen am Rande des Abgrunds“, wirft Abdul-Ghani ar-Raji, ein Verwandter des Bürgermeisters und Chef einer Baufirma, sichtlich aufgeregt ein.
Der Zustrom der Flüchtlinge hat einen Teufelskreislauf in Bar Elias in Gang gesetzt, den man im ganzen Libanon beobachten kann. Viele Syrer, die eine geringe Unterstützung für Lebensmittel und Wohnen von den Vereinten Nationen bekommen, können ihre Arbeitskraft billiger im Libanon anbieten als die Einheimischen. Gleichzeitig explodierten durch den Zuzug von tausenden Syrern für die eben aus dem Job gedrängten Libanesen die Mietkosten dramatisch. Zahlte man früher für eine Wohnung im Ort rund 100 Dollar, wird heute das Fünffache verlangt. Eigentlich dürfen viele syrische Flüchtlinge im Libanon gar nicht arbeiten – bei der Einreise werden viele gezwungen, ein Dokument zu unterschreiben, in denen ihnen Arbeit im Libanon untersagt wird. Darauf angesprochen, kann Abdul-Ghani nur laut lachen. Hinter dem Lacher verbirgt sich der Frust über eine komplett dysfunktionale Regierung.
Kein Geld aus Beirut
Zumindest dem stetig wachsenden Müllberg will man im Ort mit einer neuen Mülldeponie Herr werden. Finanziert wird eine erste Ausbauphase von der Europäischen Union. Von der Regierung in Beirut ist kein Geld zu erwarten. Das liegt nicht nur am profunden Desinteresse der Politiker an der strukturschwachen Region, sondern ist auch der Tatsache geschuldet, dass seit mehr als einem Jahrzehnt kein reguläres Budget mehr verabschiedet wurde.
Einen Ausweg aus dem politischen Stillstand könnten möglicherweise Parlamentswahlen sein. Bisher wurden solche Wahlen aus Sicherheitsbedenken verschoben. Nach erfolgreich durchgeführten Lokalwahlen im Frühjahr dieses Jahres sind diese Bedenken allerdings obsolet geworden. Ein neues Parlament, so glauben europäische Diplomaten, könnte endlich auch einen neuen Präsidenten wählen und die verzwickte Situation des Landes lösen.
Es wäre nicht der Libanon, gäbe es an dieser sehr positiven Vision nicht einen großen Haken. Sollte sich ein neu gewähltes Parlament weiterhin weigern, einen neuen Präsidenten zu wählen, stünde das Land in der Folge auch ohne Regierung da. Denn die kann nach einem neugewählten Parlament nur ein Präsident ernennen.