Nach dem Brexit droht in Dover der Verkehrsinfarkt

Banksy-Graffiti gegen Brexit in Dover

Der Hafen von Dover gilt als Tor nach England, einen ungeregelten Brexit wird man hier unmittelbar spüren. Ein Lokalaugenschein.

Auf den ersten Blick wirkt die britische Küstenstadt Dover wie ein Widerspruch in sich. Die weißen Klippen ragen wie zum Trotz aus dem Ärmelkanal, der die Britischen Inseln vom europäischen Kontinent trennt. Um die wehrhafte Symbolik zu untermauern, thront hoch über dem Ort eine mächtige Burg aus dem 11. Jahrhundert.

Von dort hat man jedoch einen Blick auf das andere Dover: Der geschäftige Hafen gilt als das Tor Englands zu den europäischen Nachbarn. An keinem anderen Punkt ist Großbritannien dem europäischen Festland so nahe.

Klippen von Dover
Wie zum Trotz ragen die weißen Klippen von Dover aus dem Ärmelkanal. Foto: The White Cliffs of Dover von Tobias von der Haar; Lizenz: (CC BY 2.0)

Der Ärmelkanal ist hier so eng, dass manche Fähren bis zu fünfmal pro Tag zwischen Calais oder Dünkirchen in Frankreich und Dover hin- und herpendeln können. Fast alle davon sind mit Lkws beladen. 150 Milliarden Dollar an Gütern passieren den Hafen pro Jahr, tausende Lkws verlassen täglich die Fähren in Südengland.

„Reibungsloser Handel“

Dover ist der Ort, an dem der abstrakte Begriff „reibungsloser Handel“ in Realität zu sehen ist: Haben die Lkws Waren aus EU-Ländern geladen, fahren die meisten von ihnen von den Fähren in den östlichen Docks direkt auf die Autobahn, um Fabriken, Unternehmen und Läden im ganzen Land zu beliefern. Frisches Obst für Supermärkte oder Metallteile für Autobauer – mehrere Tausend Lkws tagtäglich.

Hafen von Dover
Kommt es zu Behinderungen auf der Straße vom oder zum Hafen von Dover, staut es sich. Bei einem Brexit droht der Verkehrsinfarkt. Foto: „Dover Port“ von Andrew and Annemarie; Lizenz: (CC BY-SA 2.0)

Kommt es zu einem Brexit ohne Austrittsabkommen oder Handelsverträge, wird man es als Erster hier bemerken. Einen kleinen Vorgeschmack darauf kann man bereits heute in den westlichen Docks erhaschen, wo Lkws mit Waren aus Nicht-EU-Ländern auf ihre Zollfreigabe warten. Rund 500 pro Tag sind das derzeit. Um sie kümmert sich Tim Dixon von der Firma Motis. Das Logistikunternehmen hat einen Vertrag mit der britischen Regierung: Motis kümmert sich mit den Frächtern um die zahlreichen Einreise- und Zollformalitäten, Genehmigungen und Kontrollen führen dann Beamte der Regierung durch. Rund 45 Minuten kann das vom Entladen von der Fähre bis zum Verlassen des Hafens dauern – im Idealfall.

Kein Platz, keine zusätzlichen Mitarbeiter

Bei Waren aus Ländern ohne Handelsvereinbarungen mit der EU kann es noch viel länger dauern. Nicht ohne Grund hat Motis neben dem Parkplatz, wo die Lkws auf ihre Zollabfertigung warten, eine Lounge für die Fahrer eingerichtet – Restaurant, Sanitäreinrichtungen und ein kleiner Supermarkt inklusive. Nach einem Brexit ohne Handelsvereinbarungen, der am 12. April droht, wird es hier wohl voller werden.

Tim Dixon in Dover
Tim Dixon managt für die Firma Motis Einreiseformalitäten für die Frächter. Foto: jnnetwork/pool

So richtig vorbereitet ist man darauf nicht. Zwar hat sich Dixon bereits bei britischen Behörden um Genehmigungen für ein erweitertes Portfolio bei der Abfertigung beworben, extra Mitarbeiter habe man nicht eingestellt, sagt er: „Ich kenne ja das volle Ausmaß des Brexits noch nicht.“ Dass sich die Abgeordneten in Westminster auf nichts einigen können, hat hier ganz praktische Auswirkungen. Ohne zu wissen, welche Form des Austritts zustande kommt, könne man nicht planen, sagt Dixon: „Das Gleiche gilt für die Zollbeamten. Sie haben nicht in mehr Mitarbeiter investiert, weil sie nicht wissen, was kommen wird.“

„Mehr geht nicht“

Eine Rückkehr zu den Zeiten vor der EU-Mitgliedschaft kann sich Dixon ohnehin schwer vorstellen. „Derzeit habe ich fünf Personen angestellt, die sich nur um Dokumente kümmern. Vor der Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes arbeiteten 32 Personen daran. Es gab damals auch 137 Zollbeamte vor Ort, heute sind es nur mehr 40.“ Viel Know-how sei seit damals ebenfalls verlorengegangen.

Hafen von Dover vor dem Brexit
„Mehr geht nicht“, sagt Tim Dixon von Motis. Zwischen Klippen, Meer und Stadt bleibt nicht mehr viel Platz für den Hafen. Foto: „dover_from_castle.jpg“ von Alex Dawson; Lizenz: (CC BY-SA 2.0)

Selbst wenn man genügend Personal im Falle eines harten Brexits hätte, so Dixon, fehlt der Platz. Er zeigt die Zollbuchten, in denen die Lkws kontrolliert werden. Drei davon gibt es. Die werden für die 10.500 Lkws, die der Hafen von Dover täglich abfertigen kann, wohl nicht reichen. Ausreichend Platz, um neue zu bauen, gibt es nicht. „Dort sind die Klippen, dort das Meer und dazwischen die Stadt. Der Hafen nimmt schon so viel Platz ein, dass man nicht noch mehr Land einfordern kann. Mehr geht nicht.“

Verkehrskollaps

Die Zollbuchten sind dabei noch das geringere Problem. Denn müssten künftig alle Lkws durch ein Zollregime, würden sich in kürzester Zeit überall die Lkws stauen. Einen Vorgeschmack darauf bekommt man in Dover bereits jetzt regelmäßig, sagt Stadtrat Nigel Collor. „Verkehr ist hier das größte Problem. Sobald ein Lkw irgendwo auf der Straße liegenbleibt, staut es sich überall.“ Dann kommt man nicht mehr in die Stadt und nicht mehr raus. Sollte es zu einem ungeregelten Austritt aus der EU kommen, diese Befürchtung hört man hier von vielen Seiten, droht der Verkehrsinfarkt.

Trotz alledem hat die Bevölkerung Dovers mehrheitlich für den Brexit gestimmt. 62,2 Prozent wollten beim Referendum die EU verlassen. Die Begründung dafür liegt hier fast jedem auf der Lippe: „Migration“, sagt auch Tim Dixon, der aber klarmacht, dass er wenig vom Brexit hält.

Warum Dover trotz drohenden Verkehrskollaps für den Brexit gestimmt hat? Für Tim Dixon ist die Antwort klar: „Migration.“

Nicht nur für Lkws ist die engste Stelle des Ärmelkanals attraktiv: Noch immer riskieren Flüchtlinge regelmäßig die gefährliche Überfahrt von Frankreichs Nordküste, um nach England zu gelangen. Dover ist auch für sie das Tor nach Großbritannien. „Viele Leute sagen, dass es inzwischen zu viel sei“, sagt Stadtrat Collor. Ob sich die Situation durch den Brexit bessert, bezweifelt er.

„Lasst es einfach hinter uns bringen“

Nicht genug Platz im Hafen, ein drohender Verkehrskollaps, und dennoch will vom „B“-Wort, wie der Brexit hier genannt wird, in Dover kaum jemand mehr hören. Auch Collor, der gegen den EU-Austritt gestimmt hat, sagt das deutlich: „Lasst es einfach hinter uns bringen.“

Autor: Stefan Binder aus Dover
Veröffentlicht am 7.10.2019
Die Reise nach England, in deren Rahmen der Lokalaugenschein entstand, erfolgte mit finanzieller Unterstützung von Johanna-Quandt-Stiftung, Tourism Ireland / Tourism Northern Ireland und Scalable Capital.

Weiterführende Links:
Brexit:Die wichtigsten Fragen zum britischen EU-Referendum
Brexit, oder: Das Ende des britischen Pragmatismus
Brexikon – Das große Brexit-Lexikon
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