Brutalität als Strategie des „Islamischen Staates“

Die Extremisten des „Islamischen Staat im Irak und Syrien“ stellen ihre Gräueltaten nicht grundlos gerne zur Schau.

Als Anfang Juni die Kämpfer des “Islamischen Staates im Irak und Syrien” (ISIS) mit Mossul Iraks zweitgrößte Stadt stürmten, machte sie ihr schon vor zwei Jahren ausgerufenes Motto Baqqiya wa-Tatamadad (“Bestehen und Expandieren”) wahr. Seither führten die radikalen Islamisten in den eroberten Gebieten eine islamistische Charta ein und marschieren gegen Süden und eroberten Stadt für Stadt in Richtung Bagdad.

Die Umsetzung ihrer extremistischen Ziele folgte auch dort prompt: Wenige Tage nach dem Eroberungsfeldzug veröffentlichte die Gruppe Fotos von Massenhinrichtungen von Schiiten, die bei den irakischen Sicherheitskräften dienten. Die Aufnahmen zeigen wie sich hunderte Menschen mit dem Gesicht zu Boden legen müssen um Sekunden später durch Maschinengewehrsalven getötet zu werden. Eigene Angaben zufolge tötete ISIS dadurch alleine in den Tagen nach dem Sturm auf Mossul mehr als 1700 Menschen.

Zur Schau gestellte Brutalität

Das zur Schaustellen dieser Brutalität durch ISIS ist nicht neu. Als sich im letzten Jahrzehnt die vom jordanischen Extremisten Abu Musab az-Zarqawi geleitete Al-Kaida im Zweistromland, die Vorgängerorganisation der ISIS, im Irak ausbreitete, standen Attentate auf zivile Ziele, Gruppenexekutionen und brutale Vergeltungsaktionen auf der Tagesordnung.

Die Kämpfer von ISIS bedienen sich dabei der Praxis des takfir, die es den Kämpfern ermöglicht all jene zu Ungläubigen (kafir) zu erklären, die ihre extremistischen Interpretation des Islam ablehnen. Aber vor allem Schiiten, die in den Augen der ISIS vom Glauben abgefallene sind, haben unter der Praxis zu leiden.

Strategie

Doch hinter der offen zur Schau gestellten Brutalität steckt auch Strategie. Nicht ohne Grund werden die Bilder von den Gräueltaten so publik gemacht, dass sie öffentlich leicht zugänglich sind und so auch Iraks Schiiten problemlos zu sehen bekommen. Zumindest teilweise dürfte das Ziel dahinter sein, die irakische Schia selbst zu radikalisieren.

Das erhoffte Resultat durch die aufgeheizte Stimmung wären Gräueltaten gegen Sunniten – erste Berichte von erschossenen sunnitischen Gefangenen gibt seit vergangener Woche bereits. Das Gefühl vieler irakischer Sunniten, dass sie von den Schiiten – sowohl in der Regierung in Bagdad als auch durch die schiitisch dominierten Sicherheitskräfte – an den Rand gedrängt werden, soll bestärkt werden. Das Kalkül dahinter: ISIS kann sich in Folge als Beschützer der sunnitischen Bevölkerung vor den schiitischen Milizen präsentieren.

Wichtige Beziehungen

Als die radikalen Islamisten zuletzt diese Strategie verfolgten, ist sie jedoch nicht aufgegangen. Zwar begannen 2006 schiitische Milizen mit Angriffen auf Sunniten, nachdem sunnitischen Extremisten das schiitische Heiligtum in Samarra angriffen, und brachten dem damaligen Al-Kaida-Ableger im Irak (ISIS hat sich mittlerweile von Al-Kaida losgesagt) gewisse Legitimität. Doch dadurch, dass die sunnitischen Extremisten ihre radikale Ideologie nicht nur gegenüber Schiiten sondern auch gegenüber Sunniten durchsetzen wollten, verloren sie rasch an Unterstützung. Andere sunnitische Gruppen wendeten sich von von der iraksiche Al-Kaida ab.

Auch nach der erfolgreichen Offensive in Mossul diesen Monat, ist ISIS noch immer stark von anderen sunnitischen Playern im Irak abhängig – allen voran der Jaysh Rijal al-Tariqa al-Naqbashbandia, Jaysh al-Mujahideen, Ansar al-Islam und verschiedenen Stammesverbänden im Irak. Obwohl ISIS wohl die militärisch potenteste unter diesen Gruppen ist, reicht ihre Größe (zwischen 7000 und 15.000 Mann) wohl nicht aus, um die gewonnenen Gebiete auch alleine zu halten. So wie nach 2006 ist ISIS auch heute stark von der Beziehung zu sunnitischen Verbänden und der Unterstützung durch die lokale sunnitischn Bevölkerung im Irak abhängig.

2006 erfolglos

Trotz dieser Schwachstellen könnte das Kalkül der radikalen Islamisten aufgehen – vor allem wenn die Regierung Maliki ihren klar konfessionell geführten Kurs fortsetzt und dadurch weiter Sunniten in die Arme der Extremisten treibt. Premier Maliki macht derzeit keine Anstände zurückzutreten oder seinen Kurs zu ändern. Im Gegenteil: Der Regierungschef rief in den vergangenen Tagen öffentlich dazu auf Freiwilligenmilizen der Schiiten zu unterstützen. Auch wenn ISIS mit ähnlicher Taktik 2006 gescheitert ist, so steht der jüngste Erfolg der Extremisten unter anderen Vorzeichen.

  • Anders als vor acht Jahren, steht den sunnitischen Extremisten keine US-Besatzungsmacht gegenüber, die die radikalen Islamisten nicht nur mit militärischen sondern vor allem mit politischen Mitteln bekämpfte, in dem sie sunnitischen Stämme von der Gruppe Zarqawis entfremdete.
  • Im Gegensatz zu früher hat ISIS mit Syrien dieses Mal einen beinahen sicheren Rückzugsort, der nach 2006 klar fehlte.
  • Außerdem ist ISIS dieses Mal nicht nur besser organisiert, sondern vor allem finanziell besser aufgestellt. Neben den Einkünften aus üblichen Geldquellen (Erpressung, Schmuggel, Entführungen) sitzen die sunnitischen Extremisten durch ihre Eroberungen in Syrien und Irak auf geldbringenden Ölfelder. Durch den Sturm auf Mossul hat sie zusätzlich mutmaßlich 425 Millionen US-Dollar Bargeld und Gold bei der Einnahme von Banken in der nordirakischen Stadt erbeutet.
  • Auch die zahlreichen erbeuteten Ausrüstungsgegenstände, Waffen und Fahrzeuge der irakischen Armee stellen sicher, dass ISIS im Irak noch länger ein entscheidender Faktor sein wird.
Autor: Stefan Binder
Eine Kurzversion dieses Artikels erschien am 26. Juni 2014 auf  derStandard.at.

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