Alexandra Bradford: „IS braucht Gründungsmütter für neue Gesellschaft“

Trotz seiner frauenfeindlichen Einstellung schließen sich immer mehr junge Frauen dem IS an, sagt Alexandra Bradford.

Junge Männer aus dem Westen posieren mit einer AK-47 im syrischen Bürgerkrieg stolz für die Kamera – in westlichen Medien ein mittlerweile bekanntes Bild. Aber auch immer mehr junge Frauen schließen sich der Jihadistengruppe „Islamischer Staat“ (IS) an. Für die britische Terrorismusforscherin Alexandra Bradford ist die Möglichkeit, einen neuen Staat zu gründen, oft ein Grund für Frauen, sich dem IS anzuschließen. Die Wege zur Radikalisierung seien aber individuell. Die Extremisten seien vor allem in sozialen Medien erfolgreich.

Trotz einer klar frauenfeindlichen Einstellung des „Islamischen Staates“ schließen sich immer mehr junge Frauen, die im Westen aufgewachsen sind der Gruppe an. Warum?

Bradford: Es ist wichtig zu verstehen, dass sich Frauen, die sich Gruppen wie dem IS anschließen, nicht mit der westlichen Kultur identifizieren. Wenn das so wäre, würden sie auch nicht dort bleiben. Frauen bekommen in ihren Augen dort jene Rolle, die ihrem Glaubenssystem entspricht. Man muss aber auch darauf hinweisen, dass die Behandlung von Frauen durch den IS bis vor kurzem nicht in der Berichterstattung vorkam und der IS selbst darüber auch nicht sprechen wird.

Gibt es für Frauen andere Gründe, sich dem IS anzuschließen, als für Männer?

Bradford: Die meisten Gründe, sich dem IS anzuschließen, sind für Frauen und Männer sehr ähnlich. Aber jeder hat einen anderen Weg zur Radikalisierung. Frauen sind sehr oft von der Möglichkeit angezogen, dort einen Staat aufzubauen. Vielen gefällt die Idee von klar definierten Rollen von Männern und Frauen.

Es ziehen jedoch nicht nur Frauen aus Europa in das Gebiet des IS, sondern auch Frauen aus dem Nahen Osten. Haben sie andere Motive?

Bradford: Untersuchungen zeigen, dass die Rekrutierung, die der IS im Westen durchführt, sich von der im Nahen Osten unterscheidet. Zum Beispiel findet die Anwerbung im Nahen Osten natürlich auf Arabisch statt. Das schickt auch ein Signal an die Anhänger, dass diese Werbung nicht für westliche Rekrutierung gedacht ist. Viel von dieser Propaganda konzentriert sich auf die Forderung, dass Frauen nicht so gebildet sein sollten wie Männer; dass die Rolle der Frau im Haus ist und die einzige Möglichkeit, außerhalb des Hauses zu sein, ist, Religion zu studieren oder als Lehrerin zu arbeiten. Es ist eine antifeministische, gegen Bildung gerichtete Botschaft: Im Fokus der Frau sollen der Ehemann, die Familie und Gott sein. Diese Botschaft unterscheidet sich von dem, was wir bei der Rekrutierung im Westen sehen, wo die Hauptbotschaft nicht darin liegt, dass der Platz der Frau im Haus ist.

Was hat dann der IS von Frauen, wenn sie nicht für sie kämpfen dürfen?

Bradford: Zunächst: Es wurde kürzlich ein IS-Dokument entdeckt, wonach es Frauen erlaubt ist, den bewaffneten Jihad für eine Periode von drei Tagen durchzuführen, wenn es keine Männer um sie herum gibt. Der wichtigste Grund, Frauen zu rekrutieren, liegt aber darin, dass der IS versucht, einen Staat zu errichten, der bestehen bleibt, und dafür brauchen sie Frauen. Sie brauchen Menschen, die an der „Heimatfront“ bleiben, sie brauchen die „Gründungsmütter“ für diese neue Gesellschaft.

 In den Medien liest man fast ausschließlich über die Rekrutierung von Frauen durch den IS, obwohl es genügend andere extremistische Gruppen gibt, die in Syrien und Umgebung aktiv sind. Woran liegt das?

Bradford: Historisch gesehen war zum Beispiel Al-Kaida nicht wirklich aktiv bei der Rekrutierung von Frauen– mit der einen oder anderen Ausnahme. In Tschetschenien griffen Frauen zu den Waffen, aber das wurde als eine Art letzte Möglichkeit gesehen und war einzigartig für diese Situation. Der IS hat diese Marktnische in den sozialen Medien komplett erobert. Al-Kaida hat zwar auch moderne Technologien und das Internet verwendet, aber in keinster Weise so, wie der IS das macht. Al-Kaida hat seine Botschaften eher nicht an den Westen gerichtet. Alles, was von Al-Kaida kam, wurde von älteren, traditionelleren Jihadisten gemacht und war daher alles auf Arabisch und auch sehr traditionell. Das hat sich zwar durch Anwar al-Awlaki (getöteter amerikanischer Jihadist im Jemen, Anm.) etwas geändert, weil er aus dem Westen kam und Menschen im Westen ansprach. Aber abgesehen von ihm gibt es nicht viele Terrororganisationen, die soziale Medien so wie der IS verwenden.

Die Propaganda, um Frauen anzuwerben, ist das eine. Wie aber ist es dann wirklich, als Frau unter der Kontrolle des IS zu leben? Bereuen viele ihre Entscheidung, nach Syrien zu gehen?

Bradford: Das ist sehr individuell. Mittlerweile kennen viele Frauen, die sich entscheiden, sich dem IS anzuschließen, die Situation vor Ort und wissen, worauf sie sich einlassen. Wenn man aus dem Westen kommt, ist es vermutlich dennoch ein großer Schock, weil Frauen dort nicht alleine auf der Straße gehen dürfen. Wenn sie nicht verheiratet sind, werden sie in speziellen Frauenwohnheimen von der Öffentlichkeit ferngehalten. Es gibt Fälle, wo Frauen versucht haben zurückzukehren, weil sie von der Realität im IS-Gebiet desillusioniert sind. Aber es gibt eben auch Fälle von Frauen, die dort schon sehr lange leben und sich sehr deutlich darüber äußern, dass es das Leben ist, das sie leben wollen. Im Großen und Ganzen jedoch ist es schwer zu wissen, weil wir natürlich keinen Zugang zu dem Gebiet haben und deswegen nicht wissen, wie das Leben dort wirklich ist.

Radikalisierung ist kein neues Phänomen, im Lauf der Geschichte haben sich immer wieder junge Männer und Frauen radikalen Gruppen angeschlossen. Was ist beim IS anders?

Bradford: Ich glaube, dass jede Extremistengruppe, die in Zukunft entsteht – und das wird mit Sicherheit passieren –, vom IS in Bezug auf Rekrutierung lernen muss, um erfolgreich zu sein. Der IS stieg zu einem interessanten Zeitpunkt auf: Die politische Situation in Syrien und im Irak schuf ein Loch, das der IS füllte. Dort setzte auch die Propaganda an. Die Art, wie die Extremisten es schafften, viele Menschen mit einer Botschaft anzulocken: Schließt euch uns an, damit wir den Syrern helfen können. Diese Botschaft hat sich mittlerweile geändert, aber sie sind gerade dann aufgestiegen, als dieses Loch entstand.

Was den IS von anderen Gruppen unterscheidet, ist seine Möglichkeit, Gebiete zu erobern und zu halten. Sie haben tatsächlich einen funktionieren Staat geschaffen. Und das ist etwas, was wir so noch nicht gesehen haben. Wenn man das mit ihrer Rekrutierung verbindet, ist das ein Gemisch, das wir in dieser Art noch nie gesehen haben.

Alexandra Bradford arbeitet als Forscherin unter anderem für die NGO Women for Women. Zuvor studierte sie Politikwissenschaft an der Goldsmiths-Universität und „Terrorismus, Sicherheit und Gesellschaft“ am Londoner King’s College. Ihr Fachgebiet ist einheimischer islamischer Extremismus und Radikalisierung von Frauen. Zuletzt veröffentlichte sie den Artikel „Westliche Frauen für das Kalifat“ im Bulletin des deutschen Jugendinstituts.
Autor: Stefan Binder.
Veröffentlicht am 14.10.2015

Weiterführende Links:
Brutalität als Strategie des “Islamischen Staates”
Wiener Hilfe für das neue Kalifat
Virtueller Brandbeschleuniger für Jihadisten-Nachwuchs

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