Syrien-Konflikt: „Wir erleben die Milizionierung ganzer Nationalstaaten“

Die türkische Armee wolle nach dem Putschversuch mit dem Syrien-Einmarsch Bereitschaft zeigen, sagt Aaron Stein.

Offiziell galt der türkische Einmarsch in Syrien den Extremisten des „Islamischen Staates“ (IS). Unmittelbar vor der Invasion im Norden des Landes begannen allerdings von der Türkei unterstützte arabische Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA), gegen Einheiten der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) zu kämpfen. Für Aaron Stein, Experte am Atlantic Council in Washington, D.C. war der türkische Einmarsch keine Überraschung. Pläne dafür, so Stein, gab es bereits spätestens 2015. Die Türkei sei unter anderem besorgt gewesen, dass Russland und die USA über ein Thema, das die türkische Sicherheit betrifft, ohne deren Einbeziehung verhandeln. Durch den Einmarsch in Syrien war die Türkei zurück im Gespräch.

Abkürzungen

  • SDF (Syrische Demokratische Kräfte): Militärbündnis im Norden Syriens, das von den Kurden dominiert wird.
  • YPG (Yekineyen Parastina Gel, Volksverteidigungseinheiten): Syrische Kurdenmiliz, die eng mit der Kurdenpartei PYD verbunden ist und im Kampf gegen den IS von US-Spezialkräften unterstützt wird.
  • IS („Islamischer Staat“): Extremistengruppe, die von Kämpfern des SDF als auch von syrisch-arabischen Rebellen, die von der Türkei unterstützt werden, bekämpft wird.

Ende August sind türkische Truppen gemeinsam mit Kämpfern der Freien Syrischen Armee im Norden Syriens einmarschiert. Für jemanden, der die Region seit langem beobachtet, kann das keine Überraschung gewesen sein.

Aaron Stein: Der Plan wurde wohl bereits im Mai 2015, wenn nicht sogar davor entwickelt. Es wurde von der Türkei eine IS-freie Zone angedacht, und es gab eine Vielzahl von Gründen, warum der Plan lange Zeit nicht umgesetzt wurde. Es gab Bedenken der USA bezüglich einiger Rebellen, dann intervenierte Russland in Syrien, dann unterstützten die USA kurdische Rebellen. Als sich die Türkei schließlich entschied, eine Operation zum größten Teil auf eigene Faust zu beginnen, lagen die Pläne dazu schon bereit. Sie wurden den USA präsentiert, und diese entschieden sich, das Vorgehen bis zu einem gewissen Grad zu unterstützen. Der Grund für die US-Unterstützung: Solange die Operation begrenzt bleibt, hilft sie US-Interessen, nämlich dass die Grenzen geschlossen werden. Der Bereich, bei dem die Operation den US-Interessen zuwiderläuft, sind die Zusammenstöße der türkischen Streitkräfte und der von der Türkei unterstützten Rebellen mit Einheiten der kurdischen Syrian Democratic Forces. Das lenkt vom Kampf gegen den IS ab, deswegen hätten die USA gerne, dass das aufhört.

Der türkische Vorstoß, so kurz nachdem das türkische Militär versucht hat, die Regierung Erdogan zu stürzen, verwundert. Hatte der Putschversuch irgendeine Auswirkung auf den Zeitpunkt der Operation?

Stein: Ich glaube, das Militär wollte seine Einsatzbereitschaft zeigen. Viele Beobachter – mich eingeschlossen – haben sich gefragt, ob diese noch gegeben ist, nachdem eine so große Anzahl an Militärs nach dem Putschversuch verhaftet wurde. Ich glaube, es gab letztlich drei Gründe, warum sich die Türkei entschlossen hat, gerade jetzt loszuschlagen. Erstens: Der IS ist eine Gefahr für die Türkei, und sie nimmt diese Bedrohung ernst. Zweitens gab es Befürchtungen, dass Teile der SDF – speziell die Kurdenmiliz YPG – die Stadt Jarablus (syrische Stadt an der Grenze zur Türkei, Anm.) einnehmen könnten. Drittens: Für geraume Zeit wurde die Diskussion über die Zukunft Syriens meist in Washington und Moskau geführt. Viele andere Akteure in dem Konflikt waren von den Verhandlungen großteils ausgeschlossen und wurden erst danach informiert. Die Türkei war besorgt, dass ohne sie über ein Thema verhandelt wird, das ihre nationale Sicherheit betrifft, und wollte zurück ins Gespräch kommen. Das ist ihr mit der Invasion sicher gelungen.

Sie haben die Zusammenstöße zwischen den SDF, die von der kurdischen YPG dominiert werden, und der Türkei sowie den von der Türkei unterstützten arabischen Rebellen angesprochen. Was sind die SDF eigentlich?

Stein: Die SDF sind eine politische Konstruktion, die großteils von US-Vertretern geschaffen wurde, um die Anzahl der kurdischen YPG-Kämpfer zu verwässern. Die SDF bestehen aber primär aus Kämpfern der YPG. Es gibt jedoch auch arabische Gruppen, die an ihrer Seite kämpfen. Aber diese arabischen Gruppen sind sehr klein und viel schwächer als die YPG. Die YPG bestimmt letztlich alles, und das wird sich auch nicht ändern. Die YPG ist auch nach dem türkischen Einmarsch eine der dominanten Gruppen im Norden Syriens – neben dem IS, Ahrar al-Sham und Jabhat an-Nusra.

Warum ist das Verhältnis zwischen den Rebellen der Freien Syrischen Armee, die von der Türkei unterstützt werden, und den kurdischen Kämpfern so schlecht?

Stein: Es gibt die ethnische Komponente der kurdisch-arabischen Spannungen. Dann verärgerte die Kooperation der YPG mit dem syrischen Regime viele in der arabischen Rebellenbewegung. Außerdem gibt es innerhalb der arabischen Rebellen die Befürchtung, die unter anderem von der Türkei genährt wird, dass die Kurden den syrischen Staat teilen wollen. Die meisten in der arabischen syrischen Opposition wollen das nicht. Und zuletzt gibt es dann noch eine besondere Feindschaft zwischen den islamistischen Rebellen und den Kurden. Dahinter stecken auch politische Systeme, die sich diametral gegenüberstehen: Die YPG ist ein Mix aus Marxismus und amerikanisch-philosophischem Anarchismus. Dem steht Islamismus gegenüber. Das ist ein Rezept für Spannungen.

Was derzeit bei der YPG auffällt, ist ihre oft sehr harsche Rhetorik.

Stein: Die YPG ist der syrische Zweig der PKK, das heißt, sie ist wirklich antitürkisch. Beim Kampf gegen den IS geht es großteils ums Überleben, aber es stecken auch politische Ziele dahinter – nämlich Rojava (Syrisch-Kurdistan, Anm.), eine durchgehende kurdische Körperschaft im Norden Syriens, zu schaffen. Die türkische Intervention scheint das nun auszuschließen. Deswegen reagierten sie verärgert.

Das heißt, der Traum von Rojava, einer vereinten kurdischen Region im Norden Syriens, ist durch den türkischen Einmarsch vorbei?

Stein: Ich glaube, der Traum ist einstweilen vorbei. Oder zumindest ist er in einer Pause. Die Frage ist doch: Was passiert in Syrien, wenn die Kämpfe aufhören? Wie wird die Regierung aussehen, worauf können sich die Kräfte außerhalb Syriens einigen? Die Türkei wünscht sich eine starke syrische Zentralregierung ohne dezentral geführte Regionen. Ob das wirklich ein realistische Ziel ist, sei dahingestellt. Wenn der Krieg endet – egal wann das ist –, werden die Kurden aber noch immer in einer Position der Stärke sein, um politische Zugeständnisse zu verlangen. Politisch gibt es für Rojava also noch einen Weg. Was wir gerade erleben, ist nur die neueste Phase eines Konflikts, der kein Ende zu nehmen scheint.

Mit dem IS gibt es einen gemeinsamen Feind. Aber selbst in dieser Situation geraten arabische Rebellen, kurdische Rebellen und die Türkei aneinander. Selbst wenn der IS eines Tages besiegt sein sollte: Gibt es dann überhaupt ein Rezept für ein friedliches Zusammenleben?

Stein: Das ist die Millionen-Dollar-Frage. Wenn man den IS „besiegt“, überlässt man das Gebiet letztlich Leuten, die im Grunde nichts anderes als Warlords sind. Und all diese Warlords sind erbitterte Rivalen. Die Frage ist dann: Werden all diese Warlords gegeneinander Krieg führen? Wir erleben letztlich die Milizionierung ganzer Nationalstaaten. Ich beschuldige die USA nicht, aber wenn man sich entscheidet, in einem ausländischen Konflikt einzugreifen, ohne eigene Soldaten hinzuschicken – das ist übrigens die intelligente Variante –, trägt man zu einer solchen Entwicklung bei. In Syrien sind mittlerweile so viele internationale Akteure involviert, und das Land wurde mit so unglaublich vielen Waffen überschwemmt, dass Milizen das Sagen haben werden – egal was passiert.

Aaron Stein ist Senior Fellow am Rafik Hariri Center des Atlantic Council in Washington, D.C. Er forscht zur Türkei, türkischer Außenpolitik und dem syrischen Bürgerkrieg. Davor arbeitete er für das Geneva Centre for Security Policy, das Royal United Services Institute und das Centre for Economics and Foreign Policy Studies. Er studierte an der Universität von San Francisco und promovierte am renommierten King’s College in London.
Autor: Stefan Binder.
Erschienen am 5.9.2016

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