Kampf um Rechte für LGBTQI-Community in Tunesien

Nach dem Arabischen Frühlings ist Tunesien zu einem der fortschrittlichsten Länder in Bezug auf LGBTQI-Rechte in der Arabischen Welt geworden. Dennoch kommt es immer noch zu Verfolgungen und Verhaftungen.

Ein offen homosexueller Mann, der sich um das Amt des Präsidenten bewirbt, ein jährliches queeres Film-Festival, Zertifikate für LGBTQI-freundliche Restaurants und Bars – weniger als ein Jahrzehnt nach der Revolution in Tunesien ist das Land zu einem Zentrum für die Rechte von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender in Nordafrika geworden.

Zumindest oberflächlich, denn die aus westlicher Sicht archaische Gesetzgebung bleibt trotz aller Veränderung weiterhin bestehen. Doch es gibt einen Unterschied zur Zeit der Diktatur von Zine el-Abidine Ben Ali (زين العابدين بن علي): Die LGBTQI-Community war damals nicht sichtbar, so wie das in den meisten arabischen Ländern noch heute der Fall ist.

Fünf offiziell zugelassene Organisationen

Mit dem Sturz des Ben-Ali-Regimes entstanden zahlreiche zivil-gesellschaftliche Organisationen – darunter eben auch jene, die sich für LGBTQI-Rechte einsetzen. Fünf dieser Organisationen, die sich speziell für Gleichberechtigung von Gleichgeschlechtlichen Beziehungen einsetzen, sind sogar offiziell zugelassen.

Sie veranstalten Demonstrationen, rufen zu Boykotts von Unternehmen und Politikern auf, die offen homophob sind, bringen Zeitschriften heraus und werben auf tunesischen Radiostationen für Gleichberechtigung.

Mehr Festnahmen, 128 Verurteilungen

Während das öffentliche Bewusstsein für die Anliegen der LGBTQI-Community in Tunesien wuchs, stieg aber zeitgleich auch die Anzahl an Festnahmen an. Denn gleichgeschlechtliche Beziehungen sind in Tunesien weiterhin illegal. Aktivisten, die sich für die Abschaffung dieser Gesetze einsetzen, riskieren verhaftet zu werden.

In Paragraf 230 des tunesischen Strafgesetzbuchs von 1913 ist für gleichgeschlechtliche Beziehung eine Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren vorgesehen. 2018 kam es zu 128 Verurteilungen wegen gleichgeschlechtlicher Beziehungen – deutlich mehr als in den Vorjahren. Auch erniedrigende „Untersuchungen“, um die vermeintliche Homosexualität von Menschen zu beweisen, werden von der Justiz noch immer angeordnet. Auch die tunesische Polizei tritt weiterhin offen feindlich gegenüber Mitgliedern der LGBTQI-Community auf.

Druckmittel

Abbringen lassen sich die Aktivisten dadurch nicht – im Gegenteil. Die Befürworter einer liberaleren Gesetzgebung setzen auf lautstarken Protest und Aktivismus. Nach jeder Festnahme werden ausländische Medien und Menschenrechtsorganisationen in Europa und Nordamerika fleißig informiert. Dieses Druckmittel funktioniert, weil Tunesiens Wirtschaft zu einem Gutteil vom Tourismus abhängig ist.

Aber auch im Land selbst wird Druck ausgeübt. Paragraf 230 wurde auch im Präsidentschaftswahlkampf 2019 ein Thema. Nicht zuletzt, weil sich mit Mounir Baatour (منير بعطو) erstmals auch ein offen homosexueller Kandidat um das höchste Amt im Staat bewarb. Eine Premiere in der Arabischen Welt.

Gewonnen hat er freilich nicht. Aber allein dadurch, dass die Rechte der LGBTQI-Community laufend Thema in der breiteren Öffentlichkeit waren, verbuchen seine Anhänger den Wahlkampf als Erfolg.

Obwohl sich das Land nach der Revolution eine progressive Verfassung gegeben hat, bleiben die alten Gesetze in Kraft. Nicht zuletzt, weil die Politiker des Landes heillos zerstritten sind und ein funktionierender Verfassungsgerichtshof noch nicht existiert. Folglich sind auch die Möglichkeiten die rechtliche Diskriminierung vor Gericht zu bekämpfen, eingeschränkt.

Ein 2018 von der Regierung eingesetztes Komitee für individuelle Freiheit und Gleichheit empfahl eigentlich die Abschaffung von Paragraf 230.

Fortschritte

Fortschritte finden indes außerhalb der Gesetzgebung statt. Durch den steten öffentlichen Druck, bleibt keine öffentlich getätigte homophobe Äußerung in Tunesien mehr unbeantwortet. Darüberhinaus ist das Land inzwischen auch eine Art Basis für die LGBTQI-Community in Nordafrika geworden. Ausländische NGOs, die Betroffene in der Region erreichen wollen, schlagen ihr Zelt zunächst in Tunesien aus, um von hier aus in der weiteren Region zu wirken. Und das Land wird zunehmend ein Zufluchtspunkt für verfolgte Menschen aus anderen Ländern der Region, in denen Homosexualität noch mit dem Tod bestraft werden kann.

Autor: Stefan Binder.
Veröffentlicht am 19.1.2019

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